Welcher Jahrgang?

Als kleines Mädchen habe ich gelernt, dass man vor dem Alter Respekt haben sollte. Daran ist natürlich überhaupt nichts problematisch, ich würde nur gerne inzwischen das Wort „dem“ durch „jeden“ ersetzen und dann noch „Alter“ durch „Mensch“ und dann passt das schon noch. Ich finde ja, auch unter Menschen im gleichen Alter und gegenüber jüngeren ist das wichtig.
Denn wer definiert eigentlich Alter? Früher glaubte ich, irgendwann kommt ein Zeitpunkt, da fühlt man sich dann anders, älter halt, vielleicht seriöser, geordneter, gesetzter, wasweißich, als könne man das spüren.
Ich fühle mich allerdings immer noch nicht so, ich fühle mich noch ganz genauso wie sonst auch schon immer. Ich merke jedoch, dass ich, aus Respekt vor dem Alter, gleichaltrige gelegentlich sieze. Manchmal sind die dann sogar 1-2 Jahre jünger als ich. Das habe ich früher nie getan, das ist erst seit 2-3 Jahren so. Da scheint es also irgendwie eine Abweichung zu geben. Die Leute sehen dann älter aus als ich mich fühle.

Ich merke, dass Menschen, die deutlich jünger sind als ich, das mit dem Respekt vor dem Alter auch gelernt haben. Neulich zum Beispiel, da sprach ich mit zwei Radlerinnen, die waren Anfang zwanzig, das waren sehr nette Gespräche. Die beiden haben mich anfangs gesiezt und das mit dem Respekt vor älteren begründet. Das ist dann erstmal zum innerlichen Schlucken. Die ältere war in dem Fall ich. Wir sind dann schnell zum Du gewechselt, aber die Initiative musste von mir kommen. Hmm, plötzlich bin ich auf der anderen Seite.

Ja und dann traf ich gestern einen anderen Radler, der war wohl so Mitte zwanzig. Der hatte auch ganz viel Respekt vor dem Alter und da ich das unter Reisenden (nicht nur da) wirklich affig finde mit dem siezen, wechselten wir zum Du.

Dann ist es im Moment so, und jetzt kommt ein kleiner Exkurs, dass ich recht häufig gefragt werde, von wo nach wo ich unterwegs bin, seit wann ich fahre, na, das übliche halt. Die Dänen scheinen einigermaßen neugierige Menschen zu sein, die Frage kommt momentan mindestens drei Mal am Tag. Ich freue mich dann immer darüber, weil ich wirklich ein bisschen stolz auf diese Tour bin und die mittlerweile 4264km. Dann berichte ich und alle sagen dann immer etwas tolles zu mir. Gratulieren, starke Frau, zu Recht stolz, großartige Reise. Irgendsowas kommt immer, das macht mir Spaß. Und das Understatement macht mir auch Spaß, ich fange nämlich immer damit an zu erzählen wo ich an dem Morgen losgefahren bin.
Exkurs Ende.

Na, da war also dieser andere Radfahrer mit dem Respekt vor dem Alter, der wollte auch die Eckdaten meiner Reise wissen und ich habe sie ihm genannt. Zunächst sagte er nichts mehr. Und dann fragte er: „Welcher Jahrgang?“ „Neunzehnhunderteinundsiebzig, ich bin dreiundfünfzig.“ Innerlich habe ich sehr breit gegrinst über das „Boah!“, was dann kam. Und die komplette Sprachlosigkeit beim anderen. Ebenso war das jedoch auch der Moment, wo mir viel zu deutlich klar wurde, dass meine äußere Erscheinung wohl nicht mehr so viel zu tun hat mit dem gefühlten Alter, denn wie oben schon einmal gesagt, ich fühle mich nicht anders als all die Jahre zuvor. Damit muss frau auch erstmal fertig werden.

Gleichzeitig erinnere ich mich gerne an Begegnungen mit älteren Damen, wo ich dachte: „boah wie toll, wenn man im Alter noch so lebenslustig, fit, gut drauf und lebendig ist“. Und ich weiß es nicht genau, ich kann es am allerwenigsten sagen. Aber wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es, auf genau dem Wege zu sein wie die eben beschriebenen älteren Semester.


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