Wo die Bäume weit in den Himmel wachsen

Es war bereits in Helsinki, wo mir die beiden Solar Biker von den Wisenten in Polen erzählt hatten. Ich erinnerte mich danach an den letzten Urwald Europas und beschloss, dorthin zu fahren, falls dazu Zeit ist. Die war und deshalb machte ich mich nach dem Grenzübertritt von Litauen her zunächst einmal auf den Weg nach Süden.
Seit Suprasl war ich immer rechts und links am gucken. Da ich mich nicht erinnern kann, ob ich jemals zuvor überhaupt schon einmal ein Wisent gesehen hatte, wusste ich nicht, worauf zu achten war .Wie groß? Wie scheu?
Erstmal lagen massenweise Heu Rollen herum, auf die Entfernung kann das schon einmal zu optischen Täuschungen führen. Irgendwann hatte jemand seinen Acker mit 2m hohem Zaun gesichert, vielleicht war das ein Wisent Schutz.
Um es kurz zu machen: freilebende Wisente sah ich nicht. Es ist zu warm dafür, die Tiere sind tagsüber im Wald und mir fehlte der Ehrgeiz um morgens um 4 Uhr dafür aufzustehen.

Doch ich habe etwas viel schöneres entdeckt: den Bialowieza Nationalpark. Schon der Radweg nach Bialowieza war wundervoll. Es ging fast nur durch den Wald und der war sehr vielfältig. Um Geduld zu lernen, konnte ich mich unterwegs auch noch mal für eine gute Stunde unterstellen, um den schlimmsten Regen abzuwarten. Etwas später durfte ich einen spielenden Jungfuchs beobachten.

Irgendwann ging mein Blick nach oben. Da, wo sonst die Baumkronen sind, warem immer noch Stämme. Sehr weit musste ich den Kopf in den Nacken legen und dann noch weiter nach hinten beugen, um in die Kronen zu schauen. Ich sah 50m hohe Eichen, 55m hohe Kiefern. Für manche der Eichen braucht es gut und gerne 5-6 Leute um sie zu umfassen, für die Kiefern vielleicht 3-4. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.

Der Bialowieza Nationalpark gehört zum UNESCO Weltnaturerbe und ist einzigartig. In die Kernzone gelangt man nur mit einer autorisierten Führung. Nichts darf mit hineingenommen werden, nichts mit heraus genommen. Diese Wanderung habe ich gestern mitgemacht und unendlich viel gelernt. Ich möchte es nicht missen. Dieser Urwald ist 11.000 Jahre alt. Elftausend. Die Mutterbodenschicht ist mindestens 1,5m dick, an manchen Stellen bis zu 9m. Der Urwald ist komplett im Gleichgewicht und ein sich selbst erhaltendes Ökosystem. Er ist so fantastisch artenreich und keine Art ist im Übermaß. Ich habe gelernt, dass erst einmal Lichtungen entstehen, wenn ein Jahrhunderte alter Baum stirbt und wie das zur Verjüngung beiträgt. Welch explosives Wachstum an der Stelle entsteht. Ich ging an einer Stelle vorbei, wo Eichhörnchen vor ein paar hundert Jahren die vergrabenen Früchte nicht wieder ausgebuddelt haben, die Bäume jetzt zeigen es deutlich an. Ich weiß jetzt, warum Wölfe, Luchse und Bären so wichtig sind. Sie tragen massiv zum Erhalt der Vegetation bei, denn das äsende Wild kann einfach nicht mehr allweg fressen. Ich habe eine jahrhunderte alte Linde gesehen, die im Sterbeprozess war und die von unten junge neue Triebe nachschob. Unser Guide sagte, es bleibt der gleiche Wurzelstock und so haben sie dort Linden, die 8000 Jahre alt sind.
Alle Stadien, die ein Ökosystem Wald durchmacht, existieren dort parallel.
Ja, und warum sind die Bäume so hoch? Weil der Wald so alt ist. Jeder junge Baum schießt nach oben, weil er Licht braucht. Und je älter ein Wald ist, desto höher sind die Bäume und desto noch höher muss man selbst wachsen als junger Baum um Licht zu bekommen. Und noch vieles vieles mehr habe ich dort gelernt, das kann und will ich gar nicht alles aufzählen. Es würde alles zu sehr vereinfachen und das wiederum würde diesem komplexen und auch chaotischen System nicht gerecht.
Habe ich dort Wisente gesehen? Nein, das größte Säugetier, was ich sah, war ein toter Maulwurf. Ich sah viele sehr seltene Spechtarten und viele andere Vögel.
Es fühlte sich friedlich an dort im Wald. Wie nach Hause kommen. Stellenweise ertappte ich mich dabei, dass ich schlich und vorsichtig ging wie in einer Kathedrale oder so. Ich war zu Gast in diesem perfekt unperfekten Ökosystem, wo die Natur sich tutto completto selbst überlassen ist. Und es war in seiner Gesamtheit und in all diesen unendlichen vielen Details, die ich nicht aufzählen kann und mag, sicherlich eines der schönsten Sachen, die ich jemals gesehen habe.
Ein friedfertiger und magischer Ort.


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