Es fiel mir erst etwas schwerer, mich auf Estland einzulassen, anfangs wäre ich gerne noch in Finnland geblieben. Nun bin ich einige Zeit hier und genieße vieles immer mehr. Es braucht immer etwas, bis ich mich einlassen kann und ein bisschen erspüre, was in dem Land ist.
Mir gefällt die Überschaubarkeit von vielem, die Unkompliziertheit und vor allem die Naturverbundenheit.
Ich bin überrascht, wie gut die Verständigung klappt, obgleich viele Menschen, die mir begegnen, kein Wort Englisch sprechen und ich kein einziges Wort estnisch und nur zwei Worte russisch: dobre dien (guten Tag) und spassiba (danke). Und mit russisch gilt es vorsichtig zu sein, Stichwort Integrationsthematik. Aber vielleicht funktioniert die meiste Kommunikation sowieso eher ohne Worte:
Die Wirtin, die mir eine Decke brachte noch bevor ich selbst merkte, dass ich fror, weil sie mich beobachtet hat. Die Frau an der Fischverkaufsbude, die mir ungefragt Pappteller und Servietten herausbrachte, weil sie mich nicht wegfahren sah (sie sprach übrigens etwas deutsch, aber kein englisch). Die Camperin, die den Betreiber rief, weil sie sah, dass ich angeradelt kam. Die Frau, die mir 10% Ermäßigung gab, weil ich allein reise. Die Wirtin, die verkündete, „washing included“, als ich in Zeichensprache wissen wollte, was Wäschewaschen kostet. Die Portion Pommes, die ich dann doch bestellen kann, obwohl ich mich eigentlich schon unverrichteter Dinge und hilflos umdrehen und gehen wollte, weil ich plötzlich ein Foto sah. Das sind alles keine Beispiele für die großen Konversationen, aber die Bemühungen schätze ich sehr und ich bin froh, dass alles so gut klappt.
Im Nordosten des Landes ist alles ein wenig einfacher in Ausstattung, Komfort und Leben. Aber WiFi und Internetverbindung ist immer TOP. Online ist dieses Land ganz weit vorne. Jetzt gerade sitze ich auf dem Rathausplatz in Tartu, es ist free WiFi natürlich.
Tartu ist die Universitätsstadt Estlands, die Uni wurde 1632 vom schwedischen König Gustav Adolf gegründet. Gustav Adolf hatten wir vor ein paar Wochen schon einmal, das war der Auftraggeber der Vasa. War also nicht alles blöd, was er gemacht hat, die Uni gibt es immer noch. Angeblich hat es im Uni Hauptgebäude die beste Akustik Estlands, habe ich gerade gelesen. Da ist also wieder einer der unüberprüfbaren Superlative des Landes. 🙂
Heute Vormittag habe ich den botanischen Garten der Uni besucht. Dort gibt es noch eine Ausstellung von Justine Blau „Veil of Nature“. Ihr Thema ist die künstlerische Aufbereitung, wie Wissenschaft und Menschheit mit der Natur und im Angesicht der Klimakatastrophe handeln. Mich hat das sehr berührt und nachdenklich gemacht. Ich fand den künstlerischen Zugang zu dem Thema großartig. Die Frau, die durch die Ausstellung führte, hat extra für mich die Dinge auch noch auf Englisch erzählt. Sie selbst beschäftigt sich auch mit Permakultur in ihrer Freizeit. Natürlich habe ich ihr von dem Buch „Klima – eine neue Perspektive“ von Charles Eisenstein erzählt und sie war sehr interessiert und hat es auf ihre Leseliste gesetzt.
Zufälliger Weise erfuhr ich durch die Limo Flasche beim Mittagessen, dass Tartu Kulturhauptstadt Europa 2024 ist!
Diese Woche ist das Thema Musik dran, wie ungeheuer passend! Heute Abend ist ein großes und leider ausverkauftes Sängerfest hier und am Nachmittag war ein riesengroßer Umzug von Chören und Musikgruppen durch die Stadt. Gefühlt hat jedes Dorf einen Chor. Bei jeder Gruppe ging jemand mit einem Schild vorweg wo sie herkommen und ich habe ein paar Dörfer wiedererkannt. Manchmal gingen hinter dem Schild nur 4-5 Leute, Hauptsache dabei. Viele hatten traditionell anmutende Kostüme und wegen Mittsommer natürlich Blumenkränze im Haar.
Ich möchte unbedingt noch mindestens einmal RMK Übernachtung machen und weil morgen wieder ein kompletter Regentag sein wird, werde ich nur einen kurzen Abschnitt radeln und danach noch zweimal RMK Plätze mit Badestelle anpeilen. Danach geht es dann mit dem Zug von Valga nach Riga. Aber auch Bahnfahrten mit dem Fahrrad können ja ein Abenteuer sein.
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