Ein bisschen wehmütig war ich schon, als ich Finnland verließ. Es gefällt mir dort so sehr! Gleichzeitig muss ich irgendwann ja doch weiter und so gibt es viele gute Gründe zurückzukehren. Mit welchem Fahrzeug und wann auch immer. Ich hatte die letzten Übernachtungen in Zimmern verbracht wegen des vielen Regens um wenigstens halbwegs wieder zu trocknen und das geht ziemlich ins Geld – auch wenn Finnland noch nicht ganz so astronomische Preise hat wie Schweden.
Also geschwind mit der Fähre nach Tallinn übergesetzt. Der estnische Regen ist allerdings genauso nass wie der finnische, die Preise für alles sind hier jedoch sehr viel günstiger. Ein paar Tage in Tallinn und viel über Estland und die Esten gelernt bei einer phantastischen Stadtführung auf Spendenbasis.
Ich habe bisher einen großen Stolz erlebt über die Unabhängigkeit Estlands und das ist ja auch kein Wunder. Unabhängigkeit gab es von 1917-1941 und dann seit 1991. Einzige offizielle Sprache ist estnisch, gleichwohl gibt es einen großen russisch sprechenden Teil der Bevölkerung. Und damit fängt das Integrationsthema an. Im Moment gibt es sehr viele Anfeindungen untereinander, alleine wegen der Sprachen. Die Stadtführerin hat einige Geschichten aus Familie und Bekanntenkreis erzählt und ist zB selbst angefeindet worden „wegen ihres slawischen Aussehens“. Gruselig! Ich habe erlebt, wie ein Kellner in einem Cafe etwas auf Englisch gefragt wurde, es schien eine Unklarheit zu geben und die fragende Person sagte „when i translate it into your language…“. Woraufhin der Kellner recht aufbrausend und sehr laut unterbrach „what language do you mean, man? My language is russian!!!“.
Ich bin zunächst Richtung Osten gefahren und der russische Einfluss wurde immer größer je weiter ich fuhr. Waren Hinweisschilder zunächst nur zweisprachig, mit etwas Glück, wenn Englisch dabei ist, auch dreisprachig, so haben bald die Leute nur noch russisch gesprochen. Es gab am Wegesrand viele Ruinen, zT auch Bauruinen, die aus Sowjetzeiten stammen. Ich kam durch Orte, die ganz klar irgendwelche Sowjet Arbeiterstädte waren und künstlich aus dem Boden gestampft. Und in meinem Erleben legt sich über alles eine schwermütige Patina. Manchmal versucht dann jemand ein gräuliches Dorf Ensemble bunter werden zu lassen durch Aufstellen eines Geranienkübel. Doch dagegen kommt der alleine auch nicht an. Die Leute grüßen nicht mehr, sie lächeln weniger oder kaum und sind weniger interessiert. Das war in Tallinn noch anders und es war auch vor 6 Jahren anders, als ich im westlichen Teil des Landes unterwegs war.
In Estland leben 1,3 Millionen Menschen, davon ca 500.000 in Tallinn. Esten haben für 3 Dinge einen Faible: als erstes schaukeln. Es stehen überall Schaukeln herum in unterschiedlichen Bauweisen. Zum gemütlichen sitzen, zum stehen und ganz sportliche. Es gibt richtige Wettbewerbe, manchmal versuchen welche mit Überschlag zu schaukeln.
Das zweite ist, dass Statistiken irgendwie wichtig sind. „Der viertgrößte See der Welt“, „das dritthäufigste Dingens in XY“, „der größte Flusswasserfall innerhalb eines Flussbett im Baltikum“. Das ist häufig sehr komisch, wenn man es liest, weil natürlich alles irgendwann zum Superlativ wird, wenn man nur den Bezugspunkt geschickt genug wählt.
Das dritte ist, dass Esten sich sehr gerne im Wald aufhalten. 64% der Bevölkerung glauben, dass Bäume eine Seele haben und verbringen ihre Freizeit am liebsten im Wald.
Und beim Thema Wald kommt RMK ins Spiel. RMK ist die staatliche Forstbehörde und kümmert sich um Holzwirtschaft, Wanderwege, Rastplätze, Beobachtungstürme, Feuerplätze und Naturcamping Plätze. Letztere sind kostenlose Übernachtungsplätze mit Feuerstellen, Sitzbänken, Trockenklo und manchmal sogar einer Wasserquelle. Letzteres aber sehr selten, man muss sich sein Wasser mitbringen und lässt natürlich keinen Abfall zurück. RMK sorgt für die Instandhaltung und füllt meist auch Feuerholz auf. An den Wochenenden kann so ein Platz schon mal voll sein, weil die Esten eben gerne im Wald sind. Es gibt die RMK App, dort ist alles eingetragen und auffindbar. RMK finde ich mega, habe es auf dieser Tour erst einmal gemacht, leider im Regen, da bekam ich das Feuer nicht an. Ich will es aber gerne noch einmal machen, dann bei trockenem Wetter und nicht am Wochenende.
Meine Tour ging von Tallinn zunächst nach Osten durch den Laheema Nationalpark. Der besteht in erster Linie aus küstennahem Wald und ich fand ihn wunderschön. Es dauerte 2,5 Tage, bis ich durch war. Dann weiter an der Küste längs und schön ist es auch, dass die Steigungen hier gemäßigter sind, es ist insgesamt flacher. Die Schotterabschnitte sind allerdings zT heftiger, manchmal mit sehr grobem Kies. Eine wichtige Regel für das Radfahren hier: fahre nicht durch Pfützen, denn du weißt nicht, wie tief sie sind und ob sie eventuell das Rad kaputt machen.
Inzwischen bin ich in Toila angekommen, von hier sind es nur noch 35km bis zur russischen Grenze. Morgen mache ich hier Spa, das muss auch mal sein, es ist ein gutes Regenprogramm. Ich werde dann Richtung Süden weiterfahren und will zunächst an den Peipa See. Danach in die Universitätsstadt Tartu und von dort meinen Weg in die Doppelstadt Walk finden. Von dort soll es, auf lettischer Seite, einen Zug nach Riga geben. In Lettland möchte ich möglichst wenig fahren, denn dort sind entweder heftige Schotterpisten oder Schnellstraßen, wo die LKW zu knapp überholen. Das ist mir alles mit zu wenig Spaß und Leichtigkeit, darauf verzichte ich.
Und etwas besonderes habe ich noch: gestern trottete ein einzelner Wolf 150m vor mir über die Straße und den Radweg und verschwand dann links im Gelände.
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